„Die Fed muss nur auf die Wirtschaft der USA achten. Die EZB dagegen hat 19 Euro-Länder im Blick. Das macht einen enormen Unterschied“, sagt Franz Josef Benedikt, ehemaliger Präsident der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank in Bayern.
23.11.2022 | 07:30 Uhr
TiAM FundResearch: Herr Benedikt, Kritiker werfen der Europäischen Zentralbank vor, sie habe im Vergleich zur US-Notenbank bisher zu zögerlich auf die steigenden Inflationsraten reagiert. Teilen Sie diese Kritik?
Franz Josef Benedikt: Der Vorwurf ist zu pauschal. Erstens sind die Ursachen für die Inflation in den USA und Europa unterschiedlich. Zweitens steht die EZB vor anderen Herausforderungen als die Fed.
TiAM FundResearch: Sind die Instrumente zur Bekämpfung der Inflation nicht dieselben?
Franz Josef Benedikt: Im Prinzip ja. Die Notenbanken haben einen Instrumentenkasten, aus dem sie schöpfen können. Und der wichtigste Hebel ist das Herauf- oder Herabsetzen der Leitzinsen. Aber dieser Hebel wirkt nicht in jedem Szenario gleich gut.
TiAM FundResearch: Die US-Notenbank Fed wird für ihre Geldpolitik gelobt. Was macht sie gut?
Franz Josef Benedikt: Die Inflation in den USA wird hauptsächlich durch die Nachfrage getrieben. Konkret heißt das: Die sehr üppigen Konjunkturprogramme, die US-Präsident Biden aufgelegt hat, haben die gesamtwirtschaftliche Nachfrage sehr stark ansteigen lassen. Dies ist die klassische Inflationsursache. Eine hohe Nachfrage treibt die Preise. Darauf kann die Notenbank reagieren, indem sie die Liquidität reduziert und dadurch die Nachfrage senkt. Sprich: Durch eine Anhebung der Leitzinsen werden Kredite teurer, die Nachfrage sinkt – und damit irgendwann auch die Inflation. Die Kunst ist es, die Zinsen nicht zu stark anzuheben. Denn eine sinkende Nachfrage wirkt konjunkturhemmend. Im Moment sieht es so aus, als ob die Fed mit raschen Zinsanhebungen und der Ankündigung, dass sie das Tempo der Zinsschritte verringern wird, einen guten Mittelweg gefunden hat.
TiAM FundResearch: Worin besteht der Unterschied zu Europa?
Franz Josef Benedikt: in Europa ist die Situation eine gänzlich andere. Hauptursachen für die Preissteigerungen sind die unterbrochenen Lieferketten und die exorbitant gestiegenen Energiepreise seit dem Einmarsch Putins in die Ukraine. Das heißt, die Inflationsursachen sind hier auf der Angebotsseite zu finden. Mit restriktiven geldpolitischen Maßnahmen kann die EZB hier nichts bewirken. Durch Zinsanhebungen werden die Lieferketten nicht wiederhergestellt und die Energieengpässe nicht behoben. Die Notenbank hat keinen Einfluss auf die Energiepreise. Deshalb muss die EZB vorsichtiger agieren als die Fed. Hätte sie ebenso zügig die Leitzinsen erhöht, hätte dies in einigen europäischen Ländern sehr unangenehme Folgen haben können. Einige Staaten sind schließlich hoch verschuldet.
TiAM FundResearch: Die aktuellen Zinsanhebungen zeigen aber auch, dass die Europäische Zentralbank nicht tatenlos zusehen will, wie die Inflationsraten weiter steigen. Welche Möglichkeiten hat sie noch, zu agieren?
Franz Josef Benedikt: Es ist ein Spagat. Die EZB hat es schwer, aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten macht sie derzeit einen guten Job. Sie tastet sie sich vorsichtig voran und lotet aus, wieviel Zins Staaten und Wirtschaft vertragen. Was man in diesem Zusammenhang nicht vergessen darf: Die Fed muss nur auf die US-Wirtschaft achten. Im Euroraum wirken Zinsanhebungen auf 19 Länder. Wenn Kroatien im kommenden Jahr dazukommt, sind es zwanzig. Nicht in jedem Land haben wir dieselben Inflationsraten und denselben Verschuldungsgrad. Es gibt Länder mit Inflationsraten von über 20% wie zum Beispiel in einigen baltischen Ländern. In Frankreich dagegen liegt die Inflation derzeit bei nur sieben Prozent. Dafür ist dort die Verschuldung sehr hoch, wie auch in Italien oder Griechenland. Auch der Arbeitsmarkt ist inhomogen. In Deutschland haben wir einen sehr robusten Arbeitsmarkt, in Frankreich haben wir über sieben Prozent Arbeitslosigkeit, in Spanien zwölf. All dies macht es der EZB extrem schwer, das richtige Maß für ihre Maßnahmen zu finden.
TiAM FundResearch: Was unterscheidet die aktuelle Situation so sehr von ähnlichen Vorkommnissen in der Vergangenheit?
Franz Josef Benedikt: Alle konjunkturellen Abschwünge in den vergangenen Jahrzehnten verliefen ähnlich. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ging zurück. Das wirkte auch inflationshemmend. Die Preise fielen. Wenn es zu Tarifverhandlungen kam, einigten sich die Tarifparteien auf sehr moderate Abschlüsse. Denn es ging in erster Linie nicht darum, Lohnerhöhungen durchzusetzen, sondern Arbeitsplätze zu sichern. In einem konjunkturellen Abschwung haben die Notenbanken zudem die Zinsen gesenkt und die Liquidität erhöht, um diesen Abschwung abzufedern. Aktuell sieht es ganz anders aus. In Europa und insbesondere in Deutschland rutschen wir in eine Rezession, die Inflation steigt, und die Gewerkschaften fordern Lohnerhöhungen in einem kaum gekannten Ausmaß.
TiAM FundResearch: Wie kann die EZB positiven Einfluss darauf nehmen?
Franz Josef Benedikt: Gute Frage. Für die EZB ist das ein Horrorszenario. Es ist eine verzwickte Situation, für die es keine Gebrauchsanweisung und keine historischen Beispiele gibt. Zinssenkungen zur Stabilisierung der Wirtschaft sind derzeit kein Thema. Die Zinsen anheben kann die EZB aber auch nicht in dem Maße, wie es die Inflation eigentlich gebieten würde. Die Notenbanker müssen Schritt für Schritt handeln und schauen, was passiert. Trial and Error. So sieht es aus. Ich finde, bisher machen die das in ihrem Turm in Frankfurt ganz gut. Wichtig ist, das es der EZB gelingt, die Inflationserwartungen zu stabilisieren, um Zweitrundeneffekte in Form von Lohn-Preis-Spiralen zu verhindern.
TiAM FundResearch: Bisher folgt die EZB mit ihren Zinsanhebungen dem US-Vorbild, allerdings mit zeitlicher Verzögerung. In den USA wird erwartet man, dass die Fed den Leitzins bald auf 4,5 bis fünf Prozent anheben könnte. Ist damit auch in Euroraum zu rechnen?
Franz Josef Benedikt: Die Fed hat mehr Spielraum nach oben. Man geht davon aus, dass der marktneutrale Zins – also der Zins, der keine wirtschaftlichen Schäden verursacht – in den USA tatsächlich bei rund drei Prozent liegt. Im Euroraum liegt er geschätzt bei nur zwei Prozent. Alles, was die EZB über diese Marke hinaus an Zinsanhebungen wagt, birgt Risiken.
TiAM FundResearch: Sehen Sie die Gefahr einer neuen Bankenkrise?
Franz Josef Benedikt: Nein. Die Banken haben heute im Durchschnitt viel mehr Eigenkapital als in der großen Finanzkrise 2008/2009. Und dass die Zinsen derzeit steigen, hilft ihnen. Natürlich gibt es einige Banken, insbesondere in Südeuropa, die bei rezessionsbedingten Kreditausfällen in Schwierigkeiten geraten könnten. Aber diese Banken werden keine Systemkrise auslösen.
TiAM FundResearch: Welche Entwicklung der Inflation und der Zinsen erwarten Sie mittel- und langfristig?
Franz Josef Benedikt: Ich habe keine Glaskugel. Aber allein die Demografie, die Kosten der Klimawende und die notwendige Neuausrichtung der Handelsbeziehungen werden dazu führen, dass wir langfristig eine höhere Inflation haben werden. Und auch Zinsen im Bereich von zwei bis vier Prozent. Im Vergleich zu den zurückliegenden zehn Jahren klingt das viel. Früher waren solche Zahlen aber völlig normal. Wir reden hier also eher von einer Normalisierung. Man sollte das richtig einordnen. Die große Ausnahme war die Nullzinspolitik der vergangenen Jahre. Damit ist es jetzt erst einmal vorbei.
TiAM FundResearch: Was würden Sie sich wünschen, wenn Sie einen Zauberstab hätten, um die aktuellen Probleme zu lösen?
Franz Josef Benedikt: Ich würde mir mehr Zusammenhalt in der Europäischen Union wünschen. Eine einheitliche Finanz-, Fiskal- und Sozialpolitik, gesteuert von einem einzigen europäischen Finanzministerium. Mein Wunsch wäre keine Transferunion. Die einzelnen Länder müssten die Hoheit über ihre Finanz- und Steuerpolitik aufgeben. Europa könnte so unendlich stark sein, wenn es nicht diese Länderegoismen gäbe. Diese Stärke würde ich gerne erleben. Ich weiß, dass dies noch in weiter Ferne liegt. Aber Sie sprachen ja von einem Zauberstab. Vielleicht taucht er ja doch eines Tages mal auf. Wer weiß.
TiAM FundResearch: Herr Benedikt, vielen Dank für dieses Gespräch.
Am 1. Dezember 2022 fand in München das TiAM FUND FORUM Hybrid statt. Geladen waren prominente Keynote-Speaker. Neben Franz Josef Benedikt (siehe Interview auf dieser Seite) waren auch der Politiker, Wissenschaftler und Buchautor Prof. Dr. Fritz Vahrenholt sowie die Investmentlegende Lenny Fischer zu sehen und zu hören. Auf dem Forum, das auch per Online-Stream live mitverfolgt werden konnte, stellten sechs Investmentgesellschaften ihre Kapitalmarkt-Thesen und die passenden Strategien vor. Diskussionen mit dem Auditorium waren dabei ausdrücklich erwünscht.
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