Dr. Jens Südekum: „Deutschland im Krisenmodus - da ist sehr viel möglich“
Dr. Jens Südekum, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, ist Keynote Speaker beim TiAM Fund Forum am 6. Juli 2023, für das Sie sich am Ende des Textes anmelden können. Im Interview spricht Südekum über Gefahren für die deutsche Wirtschaft und dringend benötigte Lösungsansätze.04.07.2023 | 07:15 Uhr von «Peter Gewalt»
TiAm FundResearch: Herr Südekum, Sie warnen vor den Gefahren für das deutsche Exportmodel. Wo orten Sie denn die wichtigsten Bedrohungen?
Jens Südekum: Ich würde gerne die kurz- und mittelfristige Perspektive unterscheiden. Ganz kurzfristig sieht die Lage zwar nicht richtig gut aus, aber deutlich besser als man noch vor sechs bis acht Monaten gedacht hatte. Wir sind im Zuge der Energiekrise nach dem Kriegsausbruch davon ausgegangen, dass es wegen der starken Energieabhängigkeit von Russland eine sehr harte Wirtschaftskrise geben wird. Damals war nicht die Frage, ob eine Rezession kommt, sondern nur, wie hart sie ausfällt. Wenn man sich die aktuelle Situation ansieht, befindet sich die deutsche Wirtschaft in einer sogenannten technischen Rezession. Aber aufs Jahr gerechnet dürfte ein Plus beim BIP von 0,2 bis 0,5 Prozent herauskommen. Das ist sicherlich nicht berauschend, aber es ist eben doch deutlich besser als befürchtet. Da ist von der Politik Einiges richtig gemacht worden.
Und längerfristig?
Jens Südekum: Was die mittlere Sicht angeht, sagen wir bis 2030, bin ich schon deutlich skeptischer. Es gibt zwei Krisenindikatoren, die große Fragezeichen aufwerfen. Erstens sind die Energiepreise seit Spätsommer des letzten Jahres zwar deutlich gefallen, aber im internationalen Standortvergleich ist Deutschland schon klar zurückgefallen. So ist die Energiepreis-Konstellation etwa in den USA deutlich günstiger. Hinzukommen sind die massiven Subventionen durch die Kehrtwende in der amerikanischen Wirtschaftspolitik, die den dort agierenden Unternehmen klar zugutekommt. Und das hat Auswirkungen. So ist aktuell zu beobachten, dass die Investitionstätigkeit gerade in den energieintensiven Branchen in Deutschland massiv nachgelassen hat. Viele Unternehmen sagen zwar, wir kehren dem Standort Deutschland noch nicht den Rücken, aber wir investieren derzeit anderswo und nicht mehr in Deutschland.
Gibt es weitere negative Faktoren.
Jens Südekum: Ja, erschwerend kommt zweitens der Fachkräftemangel hinzu, der Wachstum kosten wird. Das Problem wird sich in den kommenden fünf bis zehn Jahren brutal auswirken, noch viel stärker als aktuell schon. Mehr als die Hälfte der Unternehmen sagen, dass der Fachkräftemangel für sie in den kommenden Jahren das größte Problem sein wird. Das geht bis hin zu einer Existenzgefährdung des Betriebs. Auch hier haben die USA deutliche Vorteile, da sich die demographische Situation in den Vereinigten Staaten viel besser darstellt.
Wie können diese Probleme denn angegangen und vielleicht sogar gelöst werden?
Jens Südekum: Die beste Strategie und Antwort auf die sehr ungünstige Energiepreisrelation ist ein massiver Ausbau des nachhaltigen Energieangebots, sprich der erneuerbaren Energien. Und da befindet sich Europa in einigen Bereichen wie den Plänen zur Wasserstoffproduktion durchaus noch in einer Vorreiterrolle. Wir haben uns sehr ehrgeizige Ziele gesetzt. So wird bis 2045 in der EU die Klimaneutralität anvisiert und 2030 sollen 80 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Quellen stammen. Da der Strombedarf insgesamt noch deutlich ansteigen wird, ist das ist eine riesige Aufgabe. Aber die Richtung stimmt: die erneuerbaren Energien sind nicht nur in Bezug auf die Klimaziele besser, sie sind auch aus geopolitischen Erwägungen und betriebswirtschaftlich bei den Grenzkosten günstiger. Der Ausbau wird also letztlich zu sinkenden Energie- und Stromkosten führen. Natürlich muss das abgesichert werden, aber das passiert. Durch den massiven Ausbau der LNG-Terminals wird die Gaslücke, die durch den Ausfall Russlands als Lieferant entstanden ist, nicht bloß geschlossen, sondern sie wird um mehr als das Doppelte überkompensiert. Diese Überkapazität beim Gas kann für die Verstromung eingesetzt werden. Zudem können die LNG-Terminals später auf Wasserstoff umgestellt werden. An sich sind damit alle Weichen so gestellt, dass die Energiepreise in Deutschland mittelfristig deutlich sinken werden.
In der Zwischenzeit ächzen die energieintensiven Unternehmen aber weiter unter den vergleichsweisen hohen Strompreisen.
Jens Südekum: Richtig, daher gibt es auch die Idee einer Industriestrompreisbremse, an der ich mitgewirkt habe. Denn wir müssen darauf achten, dass jetzt nicht reihenweise Investitionsentscheidungen gegen den Standort Deutschland und für den Standort USA getroffen werden. Denn das wäre in etlichen Fällen irreversibel. Deswegen brauchen wir zumindest kurzfristig eine Art Haltelinie und Versicherung bei den Energiepreisen. Diese Absicherung gilt nur für eine gewisse Übergangsphase, bis dann die Preise für Strom und andere Energieträger marktbedingt gesunken sind. Wir brauchen so zusagen eine Brücke in die Zukunft, in der der Strompreis dann deutlich günstiger ist als heute.
Haben sie schon ausgerechnet, was die Subventionen des Brückenstrompreises kosten würde?
Jens Südekum: Das hängt von vielen Details ab, insbesondere an der Frage, wer alles diese Subventionen am Ende erhält. Aber es gibt eine Zahl, die kursiert. Demnach könnte diese Strompreisbremse bis 2030 insgesamt circa 30 Milliarden Euro kosten.
Woher soll das Geld kommen?
Jens Südekum: Im Spätsommer 2022 wurde in Folge der Energiepreisexplosion der sogenannte Doppel-Wumms genehmigt. Von diesem Wirtschaftsstabilisierungsfonds wurden bisher weniger als 20 Prozent benötigt. Das heißt auch, dass noch über 160 Milliarden Euro an bewilligten Kreditermächtigungen vorhanden sind, die für den Brückenstrompreis genutzt werden könnten, denn das Konzept bewegt sich ja eng an der aktuellen Strompreisbremse für die Industrie.
Für wie realistisch halten Sie dieses Vorgehen?
Jens Südekum: Das Bundesverfassungsgericht schaut sich gerade genau an, ob die Umwidmung der Mittel im Corona-Hilfsfonds in den Klimafonds im Rahmen des Nachtragshaushalts 2021 verfassungsgemäß war. Sollte dies nicht als Zweckentfremdung eingestuft werden, dann sehe ich gute Chancen, dass auch die Umwidmung der Mittel im Rahmen des Wirtschaftsstabilisierungs-Fonds für den Industriestrompreis beschlossen wird.
Politisch ist das Thema in der Ampel aber nicht unumstritten?
Jens Südekum: Ja, die FDP stellt sich noch dagegen. Da aber selbst die CDU, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände für die Industriestrompreisbremse ist, nehme ich an, dass die Liberalen am Ende auch zustimmen werden.
Den zweiten Problempunkt, den sie angesprochen haben, ist der Fachkräftemangel. Der lässt sich jetzt nicht mit paar Milliarden Euro schnell beseitigen. Was wären da Ihre Lösungsansätze?
Jens Südekum: Bis 2035 gehen 13 Millionen Babyboomer in Rente. Und nur neun Millionen neue Arbeitskräfte kommen hinzu. Auch wenn man wie geplant die Erwerbstätigkeitsquote der Frauen deutlich erhöhen kann, lässt sich diese Lücke nicht schließen. Das kann nur über mehr Zuwanderung gelingen. Rein rechnerisch müssten jedes Jahr 400000 Menschen netto zuwandern. Immerhin herrscht Einigkeit innerhalb der Ampel, wie der Beschluss zum Fachkräfteeinwanderungsgesetzes zeigt, das den Weg zu mehr und einfacherer Zuwanderung ebnen soll. Damit dies letztlich erfolgreich ist, müssen aber noch einige weitere Hindernisse aus dem Weg geräumt werden?
Welche sind dies?
Jens Südekum: Erstens benötigen wir weniger bürokratische Hindernisse. Dazu zählt unter anderem die schnellere Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen. Aber, und das ist besonders wichtig, es ist auch eine positivere gesellschaftliche Haltung zu Thema Zuwanderung nötig. Ich will es mal so ausdrücken: In den Landkreis Sonneberg in Thüringen wollen sich jetzt wahrscheinlich nicht mehr allzu viele Zuwanderer niederlassen.
Gibt es ein Vorbild in Sachen Zuwanderung?
Jens Südekum: Ja, das ist sicherlich Kanada. Nicht ohne Grund hat sich die Bundesregierung auch am Punktsystem für die Einwanderung an Kanada orientiert.
Wie optimistisch sind Sie, dass Deutschland die von Ihnen genannten Herausforderungen meistert?
Jens Südekum: Es gibt meiner Meinung nach zwei Arten von Deutschland. Eines im Normalmodus, wo alles sehr kompliziert ist und Veränderungen quälend langsam vonstattengehen. Und dann gibt es das Deutschland im Krisenmodus, in dem wie 2015 in der Flüchtlingskrise und 2021 beim Energieschock plötzlich sehr viel sehr schnell möglich ist. Das zeigt etwa das Beispiel der LNG-Terminals: Innerhalb von sechs Monaten wurde in Deutschland das erste Terminal genehmigt, gebaut und in Betrieb genommen. Das zeigt, was unter Druck hierzulande möglich ist. Daher bin ich optimistisch, dass Deutschland die Krisensituationen am Ende doch meistern wird.
Herr Südekum, vielen Dank für dieses Gespräch.
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