Expertenanalyse: „Eine neue Ära hat begonnen“
Jede Woche veröffentlichen weltweit führende Vermögensverwalter zahlreiche fundierte Einschätzungen zu den Finanz- und Kapitalmarktmärkten. Um einen Überblick zu erhalten, fasst TiAM FundResearch regelmäßig die wichtigsten Aussagen für Sie kompakt zusammen.13.01.2023 | 13:30 Uhr von «Peter Gewalt»
Diese Woche stellen Volkswirte und Kapitalmarktexperten erneut die konjunkturellen Aussichten sowie die Anlagechancen für 2023 in den Mittelpunkt ihrer Analysen.
So sieht Dr. Henning Stein, Global Head of
Thought Leadership & Market Strategy bei Invesco, Lichtblicke für Anleger nach dem
Schreckensjahr 2022:
„Auch die Inflation
muss uns meiner Ansicht nach weniger Sorgen machen, als sie es aktuell tut. Natürlich
rückt die reale Rendite in Zeiten wie diesen stärker in den Fokus. Wie
schmerzhaft eine hohe Teuerung für Anleger sein kann, wissen wir aus den 1970er
Jahren: In den 50 Jahren von 1971 bis 2021 minderte die Inflation die
annualisierte US-Dollar-Rendite des S&P 500 Index um 4,2 Prozent – im
Zeitraum 1971 bis 1980 machte die Teuerung aus einer positiven nominalen
Rendite von 7,7 Prozent eine negative reale Rendite von -0,8 Prozent.
Doch wir haben deflationäre Kräfte auf unserer Seite. Das Wachstum der
Geldmenge M2 in den USA hat sich bereits deutlich verlangsamt, in der Eurozone
geht der Trend in die gleiche Richtung. Durch die erkennbare Entspannung in den
globalen Versorgungsketten wird auch die Wareninflation wieder vermutlich
nachlassen. Bei den Energiepreisen dürfte der Trend kurz- bis mittelfristig
ebenfalls wieder nach unten zeigen – und langfristig gibt es hier ohnehin
Entwarnung, weil es genug Gas auf der Erde gibt, bis wir die Netto-Null
erreicht haben. Eine weitere deflationäre Wirkung geht vom Tech-Sektor aus, in
dem zum Beispiel die Kosten der Informationsspeicherung und DNA-Sequenzierung
in den letzten Jahren und Jahrzehnten massiv gesunken sind.
Aus Sicht des um seine reale Rendite besorgten Anlegers spricht meiner
Meinung nach daher alles für langfristiges Investieren – denn damit relativiert
sich auch der Inflationseffekt. Zudem gibt es eine ganze Reihe extrem
spannender Themen, die Investoren mit einem langfristigen Anlagehorizont schon
jetzt aufgreifen können.
Zum einen spricht meiner Ansicht nach weiterhin vieles für US-Aktien, allein,
weil die USA ihre Sonderstellung behalten dürften und immer noch eines der
innovativsten Länder auf unserem Planeten sind. Die traditionelle Stärke dieses
Marktes spiegelt sich auch in der historisch starken Outperformance von
US-Aktien im Vergleich zu anderen Regionen wider.
Die USA sind autarker und robuster als andere Volkswirtschaften und aggressiv
auf Wachstum ausgerichtet. Zudem profitieren sie von der Energiekrise in
Europa: Die USA sind seit 2020 ein Nettoölexporteur und seit 2022 der
weltgrößte LNG-Exporteur. Hinzu kommen massive Investitionen in saubere Energie
und ein vor kurzem verabschiedetes 1,2-Billionen-Dollar-Investitionspaket für
die Modernisierung der Infrastruktur, das zu einer Renaissance in der
Industriepolitik führt. Gleichzeitig führen eine attraktive Körperschaftsteuer
von 21 Prozent in Verbindung mit gezielten steuerlichen Subventionen –
Stichwort „Buy American“ – zu Direktinvestitionen aus dem Ausland, um vor Ort
zu produzieren.“
Norman Villamin, CIO Wealth Management bei
Union Bancaire Privée (UBP), hält Aktien nach der kurzfristigen Markterholung im
aktuellen Umfeld für überbewertet:
„Dass die Fed Ende letzten Jahres das Tempo
ihrer Zinserhöhungen zuletzt etwas reduziert hat, ist zwar ermutigend, sollte
aber Investoren nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kampf gegen die
Inflation für einen höheren finalen Zinssatz sorgen dürfte, als die Märkte
derzeit einpreisen“, schreibt Villamin in seinem aktuellen Monatsausblick.
Aus seiner Sicht stellt ein Wirtschaftsabschwung das größte Risiko für
US-Aktien dar. „Die aktuellen Bewertungen mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von
18 beim S&P 500 kennt man sonst nur von Erholungsrallys wie 1991, 2003 und
2009, oder als Vorstufe einer Aktienblase wie 1999-2000 und 2020-21.“ Aus
seiner Sicht ähnelt die aktuelle Gewinnentwicklung dem Muster der frühen
Rezessionsphase von 1990 und 2001. „Die aktuell hohen Bewertungen und die
sinkenden Gewinnerwartungen deuten darauf hin, dass Aktien in diesem Jahr mit
Gegenwind zu kämpfen haben. Wir sind daher bei Aktien vorsichtiger geworden.“
Folglich ersetzt die Schweizer Privatbank zunehmend direktionales
Aktienmarktexposure durch ertrag- und zinsgenerierende Anlagen. Hohe
Zinscoupons lassen Villamin zufolge Anleihen zunehmend attraktiv erscheinen,
insbesondere einige Kurzläufer und Pflichtwandel- bzw. CoCo-Anleihen
(contingent convertible bonds). Vor dem Hintergrund starker Bankbilanzen würde
der attraktive Carry bei CoCo-Bonds selbst konjunkturell bedingt steigende
Ausfallraten überkompensieren. Auch bei kurzlaufenden Hochzinsanleihen sei
genügend Puffer vorhanden. Villamin rechnet jedoch damit, dass es im Lauf des
Jahres noch zu Spread-Ausweitungen kommen könnte. Aktuell würden globale
CoCo-Bonds Investoren einen Zinsaufschlag gegenüber High-Yield-Anleihen bieten.
Die wachsende Attraktivität von Anleihen spiegelt sich auch bei alternativen
Anlagestrategien wider. Zunehmend substituiert die Bank in Kundenportfolien
einzelne Long-Short-Equity-Strategien durch Long-Short-Credit-Strategien.
„Letztere können von hohem Carry, erhöhter Volatilität und stärkerer
Differenzierung nach Kreditrisiken profitieren und so die möglicherweise durch
eine US-Rezession bescheidene Rendite erhöhen“, so Villamin.
Investoren nähmen
schwache Konjunkturdaten nicht ernst genug, warnt Dr. Daniel Hartmann, Chefvolkswirt
Bantleon:
„Deutlich weniger
Aufmerksamkeit als die Inflationsdaten genießen nach wie vor die
Konjunkturdaten. Dabei gab es hier in den ersten Januartagen ebenfalls
bemerkenswerte Zahlen – allerdings in negativer Hinsicht. So haben etwa die
deutschen Auftragseingänge der Industrie im November 2022 erneut einen herben
Rückschlag erlitten und liegen nunmehr bereits fast 20 Prozent unter ihrem Hochpunkt
aus dem Jahr 2021. Dies und andere Daten – wie etwa die Einzelhandelsumsätze –
bestätigen uns in der Einschätzung, dass die Rezession in der Eurozone bereits
im 4. Quartal begonnen hat. Nicht zuletzt die weiter abflauende Nachfrage nach
Industriegütern lässt überdies keine Aussicht auf eine baldige Besserung
erkennen.
In den USA ist die Frequenz an Negativmeldungen nicht minder imposant. Ein
Ausrufezeichen setzte in der vergangenen Woche der ISM-Einkaufsmanagerindex des
Servicesektors, der im Dezember von 56,5 auf 49,6 Punkte abstürzte. Bis dahin
galt das Barometer als Fels in der Brandung und einer der wenigen Indikatoren,
die immer noch eine robuste Konjunktur signalisierten. Nunmehr bewegen sich
praktisch alle prominenten US-Barometer (ISM-Index der Industrie, NAHB-Index,
PMIs von S&P Global, regionale Geschäftsklimaindikatoren) in einem Bereich,
der eine schrumpfende Wirtschaft nahelegt.
Geht es nach unseren eigenen weit vorauslaufenden Frühindikatoren, werden sich
diese Abwärtstrends bis weit ins Jahr 2023 hinein fortsetzen. Der wesentliche
Grund hierfür sind die in allen Bereichen gestiegenen Kosten (Zinsen, Löhne,
Rohstoffpreise), deren negative Wirkung sich erst mit großer Verzögerung in der
Wirtschaft niederschlägt. In unseren Augen spricht daher viel dafür, dass auch
die USA zu Jahresbeginn in eine Rezession abgleiten und dort für mehrere
Quartale verharren. Die meisten Investoren wollen davon aber nichts wissen. Sie
setzen weiter auf eine expandierende US-Wirtschaft und rechnen entsprechend mit
anhaltenden Gewinnsteigerungen bei den Unternehmen. Selbst wenn es – entgegen
unseren Erwartungen – so kommen sollte und sich die US-Konjunktur im 1.
Halbjahr 2023 überraschend robust zeigt, wäre dies jedoch kein Grund zur
Entwarnung. In diesem Fall bliebe die Lage am Arbeitsmarkt angespannt und würde
die Inflationsgefahr weiter befeuern.
Die Fed käme nicht umhin, den Leitzins auf über 5,00% anzuheben. Das würde dann
aber endgültig das Fass zum Überlaufen bringen und nicht nur den Arbeitsmarkt,
sondern auch die Konjunktur abwürgen. Man kann es somit drehen und wenden, wie
man will. Eine baldige Rückkehr zu den Goldilocks-Zeiten – robustes Wachstum
bei niedriger Inflation – ist nicht zu erwarten. Vielmehr wird die
Weltwirtschaft bereits im 1. Halbjahr 2023, spätestens jedoch in der zweiten
Jahreshälfte in sehr schwieriges Fahrwasser geraten. Damit bleiben aber auch
die Perspektiven für die Aktienmärkte eingetrübt.“
"Bonds are Back" lautet der Titel von
PIMCOs großer Jahresausblick 2023. Nordamerika-Ökonomin Tiffany Wilding analysiert hierzu das makroökonomisches
Umfeld:
-
Die Verschärfung der finanziellen
Bedingungen sollte die Inflation abkühlen und zu einer Rezession in den
Industrieländern führen. Dieser Mechanismus wird sich in der Realwirtschaft
insbesondere durch eine Schwächung des Arbeitsmarktes äußern.
-
Die Notwendigkeit einer restriktiven
Geldpolitik wird im Laufe des Jahres 2023 zunehmend in Frage gestellt werden,
sobald sich die Inflation abschwächt und die Arbeitslosigkeit ansteigt.
-
Das Vereinigte Königreich befindet
sich wahrscheinlich bereits in einer Rezession. Wir gehen davon aus, dass der
Euroraum folgen wird und die USA und Kanada in der ersten Hälfte des Jahres
2023 in eine Rezession abrutschen werden.
-
Die Fed nimmt unter den
Zentralbanken der Industrieländer eine Führungsrolle ein und könnte die erste
sein, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2023 über eine Zinssenkung
nachdenkt.
-
Der wichtigste Katalysator für das
Jahr 2023 wird wahrscheinlich das Wiederaufleben der Nachfrage aus China
werden. Größter Störfaktor dürfte die Verlangsamung der Nachfrage aus den
Industrieländern angesichts der strengeren finanziellen Bedingungen sein.
Andrew Balls, CIO Fixed-Income bei PIMCO, schreibt zu den Anlagechancen:
-
Die gegebene
Rezessionswahrscheinlichkeit stellt risikoreichere Anlagen wie Aktien und
Unternehmensanleihen von geringerer Bonität weiterhin in Frage. Gleichzeitig
hat die Neubewertung an den Finanzmärkten im Jahr 2022 die Renditeaussichten in
anderen Bereichen, insbesondere bei Anleihen, verbessert.
-
Im aktuellen Umfeld positionieren
wir uns weiterhin vorsichtig und halten trockenes Pulver vor, um wir im Falle
bedeutender Marktbewegungen das Risiko in unseren Portfolios erhöhen zu können.
-
Wir konzentrieren uns auf
hochwertige festverzinsliche Sektoren, die so attraktive Renditen bieten wie
seit vielen Jahren nicht mehr.
-
Die Märkte für festverzinsliche
Wertpapiere gewähren heute breite Möglichkeiten für den Aufbau robuster Portfolios
mit dem Potenzial für attraktive Renditen und die Abfederung von
Abwärtsrisiken.
-
Für 10-jährige US-Anleihen erwarten
wir eine Renditespanne von etwa 3,25 Prozent bis 4,25 Prozent.
-
Besonders vorsichtig sind wir in
konjunktursensiblen Marktbereichen – insbesondere in den Segmenten, die die
Hauptlast eines Überschießens der Geldpolitik tragen würden.
-
Unsere Modelle zeigen, dass im
S&P 500 eine viel geringere Rezessionswahrscheinlichkeit eingepreist ist,
als die Makroindikatoren vermuten lassen, während die Schätzungen der Gewinne
pro Aktie (EPS) zu optimistisch erscheinen.
Für Dieter Wermuth,
Economist und Partner bei Wermuth Asset Management, hat am Kapitalmarkt eine
neue Ära begonnen:
„Die Frage ist, ob sich
nach der letztjährigen Korrektur der Bond- und Aktienkurse inzwischen so etwas
wie Normalität eingestellt hat. Bei Anleihen ist der Weg dahin auf den ersten
Blick nicht mehr allzu weit: 10-jährige Bunds rentieren aktuell mit 2,2 Prozent und
nähern sich daher dem Gleichgewichtswert von 3 Prozent. Ob das aber tatsächlich ein
Gleichgewichtswert ist, hängt allerdings entscheidend davon ab, ob die EZB
tatsächlich in der Lage ist, die Inflation dauerhaft bei 2 Prozent zu verankern.
Jüngste Prognosen kommen zu dem Ergebnis, dass die tatsächliche (im Gegensatz
zur erwarteten) Inflation erst 2025 einen Wert in der Nähe von etwas über 2 Prozent erreichen wird.
[……..]
„Die EZB bleibt jedenfalls
mit dem Fuß auf der Bremse und scheint vorzuhaben, die Leitzinsen bis zum Juni
oder Juli 2023 um insgesamt noch 150 Basispunkte auf dann 3,5 Prozent
anzuheben. Der Zentralbankrat scheint sich in dieser Hinsicht einig zu sein, nicht
zuletzt, weil der europäische Arbeitsmarkt nach wie vor ziemlich robust ist und
eine restriktivere Geldpolitik gut vertragen dürfte. Außerdem will sich die EZBnicht mehr so sehr von Prognosen leiten lassen, weil die in der Vergangenheit
so oft danebenlagen. Und im Vorjahresvergleich sind die Inflationsraten eben
weiterhin inakzeptabel hoch. Das ist es, was im Augenblick zählt.
Insgesamt nähern sich die
Kapitalmärkte allmählich den realwirtschaftlichen Realitäten. Da die
Arbeitsproduktivität im Trend inzwischen um weniger als 1 Prozent zunimmt,
werden die Erträge am Kapitalmarkt auf’s Ganze gesehen nicht in den Himmel
wachsen.
Zwei deutlich voneinander
unterscheidbare Perioden liegen inzwischen hinter uns: die Zeit steigender
Inflationsraten und Leitzinsen in den siebziger Jahren, dann, ab 1981 bis Ende
2021 sinkende Inflationsraten bis hin zum Rand einer Deflation, zuletzt
begleitet von einer sehr expansiven Geldpolitik und überbewerteten Renten- und
Aktienmärkten. Es sieht danach aus, dass wir es in den nächsten Jahren, wenn
nicht Jahrzehnten, mit moderateren Bewertungen und bescheidenen Erträgen zu tun
haben werden, vielleicht auch geringerer Volatilität. Eine neue Ära hat
begonnen.“