Nobelpreisträger Stiglitz: „Ich weiß, wie ich wählen würde“
In einem weiteren durch das Project Syndicate veröffentlichten Kommentar untermauert Josef E. Stiglitz seine These: Die Europäische Union beschreitet beim Thema Griechenland den falschen Weg, stellt der Nobelpreisträger fest.30.06.2015 | 06:45 Uhr
Bereits Mitte Juni richtete sich der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Josef E. Stiglitz mit einem eindringlichen Appell an die Öffentlichkeit, in der er die Vorgehensweise der Europäischen Institutionen als gefährlich abmahnte – es fehle der Eurozone an Vertrauen und Transparenz. Die an das Hilfsprogramm geknüpften Verbindungen seien unverantwortlich und hätten zu einem Einbruch des griechischen Wirtschaftswachstums von 25 Prozent geführt. Er könne sich keiner anderen wirtschaftlichen Depression entsinnen, welche ähnlich bewusst herbeigeführt worden sei und in vergleichbaren katastrophalen Konsequenzen geendet hätte.
„Der immer schärfer werdende Ton in den Verhandlung offenbart die wahre Natur der europäischen Führer: Es geht ihnen nicht um Geldsummen oder um die Volkswirtschaften der Länder, sondern es geht ihnen um Macht und Demokratie.“ Die Troika habe eine Übernahme der Verantwortung für das griechische Dilemma verweigert – trotz ihrer falschen Vorhersagen. „Entscheidungsträger in Europa haben noch nicht einmal aus der Vergangenheit gelernt“, so Stiglitz weiter. Die Troika verlange weiterhin einen Primärüberschuss in Griechenland von 3,5 Prozent des griechischen BIP in 2018. Volkswirte rund um den Globus hätten diese Forderung als strafend und als nicht förderlich für Griechenland verurteilt.
„Wenige Länder haben erreicht, was Griechenland in den letzten fünf Jahren erreicht hat – ein ausgeprägtes Primärdefizit in einen Überschuss umzuwandeln“, urteilt der 72-jährige. „Wir sollten ganz klar sein: Kaum etwas des an Griechenland verliehenen Gelds ist tatsächlich in Griechenland angekommen. Es ist beinahe ausschließlich an Kreditgeber aus dem Privatsektor geflossen – deutsche und französische Banken eingeschlossen. Griechenland hat einen hohen Preis für den Erhalt der Bankensektoren dieser Länder gezahlt.“
Ende Januar hätten die Griechen eine Regierung gewählt, die für das Ende der Sparmaßnahmen stehe. Hätte die griechische Regierung ihre Wahlversprechen im vollen Umfang umgesetzt, so hätten sie den Vorschlag der europäischen Institutionen bereits abgelehnt. Aber die griechische Regierung habe ihrem Volk die Chance geben wollen, sich in die Verhandlungen einzubringen. „Diese Sorge um demokratische Legitimation ist jedoch unvereinbar mit der Politik der Eurozone, welche nie ein demokratisches Projekt war.“ Ein Großteil der Mitgliedsstaaten habe seine Bevölkerung nicht gefragt, ob sie der Eurozone beitreten wolle. Die Schweden jedoch, so der Wissenschaftler, hätten damals verstanden, dass dieser Schritt steigende Arbeitslosigkeit bedeuten hätte – und mit „Nein“ gestimmt.
„Was wir heute sehen, ist die Antithese der Demokratie.“ Viele europäische Führer würden gerne das Ende von Premierminister Alexis Tsirpas linksorientierter Regierung sehen. „Sie glauben wohl, dass sie die griechische Regierung stürzen können, indem sie sie dazu zwingen, eine Vereinbarung zu unterzeichnen, die nicht ihrem Mandat entspricht“, bemängelt der Nobelpreisträger. Wie auch immer das Referendum ausfallen werde – beide Wege würden große Risiken in sich bergen. Ein „Ja“ würde eine lang anhaltende Depression bedeuten. Am Ende könnte Griechenland aber endlich einen Schuldenerlass und die Unterstützung der Weltbank erhalten.
Im Gegenzug würde ein „Nein“ den Griechen zumindest die Möglichkeit offen halten, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Griechenland, durch eine starke demokratische Tradition geprägt, könnte seine Zukunft, wenn auch nicht so blühend wie in der Vergangenheit, selbst gestalten – weitaus hoffungsvoller als die gewissenlose Folter der Gegenwart. „Ich weiß, wie ich wählen würde“, schlussfolgert Stiglitz.
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