Vergangenen Freitag meldete Großbritannien einen mehrheitlich unerwarteten Rückgang des BIP. Die wirtschaftlichen Risiken im Land nehmen zu, ein Brexit ohne Vertrag wird wahrscheinlicher.
12.08.2019 | 15:00 Uhr von «Christian Bayer»
Der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) im Vereinigten Königreich um 0,2 Prozent gegenüber dem Vorquartal sorgte für Überraschung. Im Schnitt hatten Volkswirte nur eine Stagnation erwartet.
Nach Auffassung von Ethenea liegt eine der wesentlichen Ursachen im Brexit.
„Der Schaden für die britische Wirtschaft, den das Brexit-Referendum und das
folgende politische Chaos ausgelöst haben, ist bereits jetzt immens und
zumindest teilweise irreversibel“, sagt Volker Schmidt, Senior Portfolio
Manager bei Ethenea. „Im ersten Quartal 2019 ist das BIP zwar um 0,5 Prozent
gewachsen, dieses unerwartet hohe Wirtschaftswachstum ist aber einzig auf eine
erhöhte Lagerhaltung der Unternehmen zurückzuführen.“ Die Unternehmen hätten
vor dem Hintergrund des ursprünglichen Brexit-Termins am 31. März vorsorglich
die Lagerbestände deutlich erhöht und dadurch der Wirtschaft einen einmaligen
Schub gegeben.
Neben dem Rückgang des BIP seien aus Sicht von Ethenea weitere negative Faktoren in der Wirtschaft bemerkbar. „Die Immobilienpreise fallen deutlich, Einzelhandelsunternehmen kollabieren, ausländische Arbeitskräfte haben das Land bereits verlassen, und die Industrie hat ihre Investitionen längst reduziert“, so Schmidt.
Da die künftigen Rahmenbedingungen unklar seien, würden die
Unternehmen abwarten und nicht in die Zukunft investieren. Besonders betroffen
sei die Autoindustrie. Ethenea verweist auf die Zahlen der Gesellschaft der britischen
Autoproduzenten und -händler. Im ersten Halbjahr 2019 lagen die ausländischen
Investitionen im Sektor bei nur noch 90 Millionen Pfund. Zum Vergleich: In den
ersten sechs Monaten des Jahres 2017 hat das Investitionsvolumen noch 647
Millionen Pfund betragen.
Holger Schmieding, Chefvolkswirt bei der Berenberg Bank, macht zusätzliche
globale Faktoren aus, die dem Land zusetzen: „Da 30 Prozent des britischen
Bruttoinlandsprodukts aus dem Export stammen, treffen Unternehmen ihre
Investment-Entscheidungen mit einem Blick auf die globale Nachfrage. Zunehmende
Unsicherheiten, die mit einer Wachstums-Verlangsamung in China und den
Handelsstreitigkeiten zwischen China und den USA verbunden sind, verstärken die
Sorge um die künftige Geschäftsentwicklung.“
Aus Sicht Schmiedings kämpft der
neue Premierminister Boris Johnson an zwei Fronten, nämlich mit der EU und mit den
gemäßigten Kräften in seiner eigenen Partei. Der Streit könnte nach Rückkehr
des britischen Parlaments aus der Sommerpause am 3. September an Schärfe
zunehmen. Berenberg sieht die Wahrscheinlichkeit eines Brexit mit und ohne Vertrag
am 31. Oktober bei jeweils 30 Prozent. Mit 40 Prozent ist aus Sicht der Bank eine
Verlängerung der Frist über den 31. Oktober hinaus am wahrscheinlichsten. In
diesem Fall würde die Unsicherheit und die Stagnation bei den Investitionen
weiter andauern.
Das Risiko eines No Deal-Brexit durch die Ernennung des neuen Premierministers Johnson
sieht Stephen Bell, Chefökonom bei BMO Global Asset Management, bei deutlich
über 50 Prozent. In diesem Fall würde das britische Pfund weiter an Wert
verlieren. Besonders stark würden Unternehmen mit heimischem Fokus betroffen.
Allerdings könnt ein schwaches Pfund die meisten Konzerne des britischen
Leitindex FTSE 100 beflügeln, da die Erträge zum großen Teil aus Übersee
stammen.
Bell sieht die Möglichkeit einer politischen Kursänderung nach dem Brexit-Datum:
„Nach dem 31. Oktober liegt die Wahrscheinlichkeit, dass eine
Minderheitsregierung der Labour-Partei eingesetzt wird, bei 40 Prozent. Die
Labour-Partei wird unter anderem von liberalen Demokraten und schottischen
Nationalisten getragen und würde sich deshalb für die Durchführung eines
zweiten Brexit-Referendums entscheiden.“
Im Falle eines No-Deal Brexits geht
Bell von einer Lockerung der Geldpolitik durch die Bank of England aus. Das
würde aus seiner Sicht den Druck auf britische Staatsanleihen verringern.
Trotzdem müssten Anleger mit einer Abstufung des Ratings von AA auf AA-
rechnen. Insgesamt hält Bell die Auswirkungen auf den Anleihenmarkt in
Großbritannien aber für gering.
Diesen Beitrag teilen: