Die aktuellen Festsetzungen bei Renteneintrittsalter, Beitragssatz und Sicherungsniveau der gesetzlichen Rentenversicherung können schon mittelfristig nicht mehr gehalten werden.
19.09.2022 | 12:15 Uhr
Die Menschen in Deutschland müssen verstärkt selbst
vorsorgen, die nötigen Anreize dafür vom Staat kommen. Zu diesem Schluss kam
das kürzlich vom Deutschen Institut für Vermögensbildung und Alterssicherung
(DIVA) ausgerichtete Experten-Gespräch zum Thema Alterssicherung in Deutschland
mit Michel Littig, Präsidiumsmitglied der MIT Mittelstands- und
Wirtschaftsunion und langjähriger Co-Vorsitzender der Kommission Arbeit und
Soziales.
Michael Heuser, Wissenschaftlicher Direktor des DIVA und Gastgeber des
Gesprächsformats, bewertet auf Basis aktueller DIVA-Forschungsergebnisse die
Perspektiven des gegenwärtigen Alterssicherungssystems als kritisch. Mit dem
Renteneintritt der Babyboomer sieht er die Rentenpläne der Regierungskoalition
schon in den nächsten Jahren und darüber hinaus nicht mehr tragfähig. „Wenn
alle Stellschrauben unverändert bleiben, werden bald Bundeszuschüsse zur
gesetzlichen Rentenversicherung von mehr als der Hälfte des Bundeshaushalts
fällig“, so Heuser. „Den meisten Menschen ist die Problematik bewusst. Unser
Altersvorsorge-Stimmungsbarometer, der DIVAX-AV, zeigt einen zunehmenden
Pessimismus bei der Altersvorsorge an, insbesondere mit Blick auf die
gesetzliche Rentenversicherung.“
Auf dieser Gesprächsgrundlage beleuchtete der Experte, Michael Littig,
verschiedene Aspekte der Alterssicherung und zeigte Lösungsmöglichkeiten, aber
auch harte Realitäten auf.
Michael Littig zur Ampelkoalition: „Rentenversprechen nicht zu halten“
„Das Rentenversprechen der Regierung ist schlicht nicht zu halten. Wir rasen
auf ein enormes Spannungsfeld zu. Ende des Jahrzehnts werden wir mit Beiträgen
um die 28 Prozent rechnen müssen, und auch das Rentenniveau bei 48 Prozent kann
nicht gehalten werden.“
…zur Aktienrente: „Zocken auf Pump“
„In einem sehr langfristigen Szenario müssen sicher alle Optionen einer
Kapitaldeckung mit Hilfe von Fonds geprüft werden. Kurzfristig hat
beispielsweise ein Staatsfonds absolut keinen Effekt und kann keinen Beitrag
zur Lösung der drängendsten Fragen, wie etwa der Babyboomer-Problematik,
leisten. Aktien sind auf lange Sicht die ertragreichere Anlageklasse. Aber der
Aufbau eines Kapitalstocks, dem Beträge für Rentenzahlungen entnommen werden
können, braucht massive Zuflüsse und viel Zeit. Die derzeit diskutierte
Aktienrente wird aus Bundesmitteln gespeist. Das heißt, entweder geht es zu
Lasten anderer staatlicher Leistungen, durch Steuererhöhungen oder durch
Schuldenaufnahme. Und letzteres wäre in der aktuellen Haushaltssituation Zocken
auf Pump. Vergleiche mit anderen Staatsfonds, beispielsweise in Norwegen,
greifen meines Erachtens ins Leere. Denn dieser wird aus Rohstoffüberschüssen
gespeist und kannibalisiert keine laufenden Projekte.“
…zur Reform des Alterssicherungssystems: „länger und mehr arbeiten“
„Eine Grundsicherung, wie es derzeit auch der Fall ist, muss natürlich bestehen
bleiben. Wir werden es uns aber nicht leisten können, die Hälfte des
Bundeshaushalts dafür aufzuwenden, um im Gegenzug Eintrittsalter, Beitragssatz
und Sicherungsniveau zu halten. Die gesetzliche Rente allein wird für den
Erhalt der Lebensqualität im Alter nicht reichen, diese kann nur mit
ergänzenden Bausteinen über die zweite und dritte Säule gesichert werden. Der
Staat muss hier nachhelfen und Anreize zur Eigenvorsorge setzen – er muss mehr
tun, als nur das Existenzminimum zu sichern. Gleichzeitig müssen sich die
Bürger am Erhalt der Grundsicherung beteiligen. Insbesondere für jüngere
Menschen klingt das extrem hart. Sie müssen bei unveränderten Rahmenbedingungen
im Endeffekt länger und mehr arbeiten, höhere Beiträge zahlen und bekommen
weniger ausgezahlt. Leider ist das die harte, mathematische Realität. Hier sind
alle gefordert, einen anderen Rahmen zu entwickeln.“
…zur Rolle der privaten Altersvorsorge: „Anreize zur Eigenvorsorge“
„Wenn wir zwischen 2035 bis 2050 einen Effekt realisieren wollen, kann das nur
über Hebelwirkungen in der zweiten und dritten Säule funktionieren. Solche
Wirkungen können nach dem Förderprinzip erzielt werden – Belohnungen für die
Bereitschaft zur Eigenvorsorge. Die Riester-Rente hat beispielsweise einen
solchen Hebel, nur ist in der Realität der Verwaltungsaufwand zu hoch. In der
Folge wurde Riester schlechter geredet als sie ist. Dabei ist das
Konstruktionsprinzip mit den sozialen Komponenten äußerst wirkungsvoll. Wenn es
gelingt, ein ähnliches Produkt in einer einfacheren Ausgestaltung und weniger
Bürokratie zu realisieren, sollte das insbesondere junge Menschen motivieren
können. Denn diese werden um die private Vorsorge nicht umhinkommen, während
der Staat damit beschäftigt sein wird, die erste Säule am Laufen zu halten.“
Innerhalb der CDU bemühe man sich im Rahmen der Arbeitsgruppe Alterssicherung
der Programm- und Grundsatzkommission laut Littig um eine ehrliche
Bestandsaufnahme. Der erste Schritt müsse sein, die prekäre Situation zu
akzeptieren, auch wenn es schwerfällt. Man sei gerade in einer Findungsphase,
wo Wahrheiten nüchtern auf den Tisch gelegt und mit spitzer Feder gerechnet
würde. Auf diesem, wenn auch unangenehmen, Fundament könne man aufbauen –
beispielsweise mit dringend benötigten Fördermaßnahmen in der privaten
Altersvorsorge. Auch die jüngsten DIVA-Forschungsergebnisse deuteten wiederholt
darauf hin, dass die Lebensgrundlage im Alter vieler Menschen ohne staatliche
Unterstützung bei der Eigenvorsorge gefährdet ist. (dp)
Die Videoaufzeichnung des Experten-Gesprächs ist hier einsehbar:
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