Robert Lind, Volkswirt bei Capital Group, spricht im Interview über die konjunkturelle Lage weltweit, attraktive Investmentchancen und die wirtschaftliche Situation Deutschlands.
14.11.2024 | 14:30 Uhr von «Peter Gewalt»
TiAM FundResearch: Herr Lind, es sind turbulente Zeiten, politisch wie wirtschaftlich. Wie sind denn die konjunkturellen Aussichten für 2025?
Robert Lind: Nicht so düster, wie viele vielleicht annehmen.Denn das globale Wachstum entwickelt sich insbesondere in den USA und Indien robust, die Rezessionsgefahr nimmt daher weiter ab. Das ist speziell auf den stabilen Dienstleistungssektor in vielen Ländern zurückzuführen, der ein Soft Landing der Weltwirtschaft wahrscheinlicher macht.
Und die Inflation?
Die Inflationsproblematik verliert erst einmal an Bedeutung, da die Energiepreise sinken. Gleichzeitig exportiert China Deflation, da das Land überschüssige Kapazitäten zu niedrigen Preisen nach Europa und den USA ausführen will und muss. Dazu kommt noch, dass die Arbeitsmärkte nicht mehr so angespannt sind wie in den vergangenen Jahren, sodass die Löhne nicht mehr so stark wie zuletzt steigen werden.
Was heißt das für den geldpolitischen Kurs der Zentralbanken?
Unterm Strich dürfte die Inflationsrate wieder auf die Zielmarke der Notenbanken von zwei Prozent zurückfallen. Daher dürfte der Kurs der Zinssenkungen weitergehen.
Das heißt, Sie gehen sorgenfrei ins neue Jahr?
Nein, denn es gibt schon noch einige Risiken, die mir Sorgen bereiten. Sonst wäre ich auch kein Ökonom (lacht). Vor allem die stark steigende Verschuldung der Industriestaaten ist kritisch, die in der Corona-Krise nochmals in den meisten westlichen Staaten deutlich zugelegt hat. Inzwischen sind die Schuldenberge im Vergleich zur Wirtschaftsleistung so hoch wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Es stellt sich daher die Frage, wie lange die Finanzmärkte diesen gefährlichen Kurs noch akzeptieren. Auswirkungen hat die wachsende Verschuldung aber meiner Meinung nach schon heute.
Inwiefern?
Die Renditen für US-Staatsanleihen haben sich seit ihrem Tiefpunkt vor vier Jahren deutlich nach oben entwickelt. Und das ist nicht nur deshalb geschehen, da die US-Wirtschaft strukturell mit tendenziell höherer Inflation leben muss, sondern auch wegen der gestiegenen Haushaltsdefizite in den USA. Ich bin der Meinung, dass wir eine neue Normalität bei den Staatsanleiherenditen sehen und auf die niedrigen Zinsniveaus von 2020 bis 2022 erst einmal nicht mehr zurückkehren werden.
Wie sollten Anleger mit dieser Situation umgehen?
Die Risikoprämie für Aktien, die vom Zinsniveau stark beeinflusst wird, ist in den USA deutlich niedriger als die in anderen Regionen. Das heißt im Umkehrschluss, dass US-Titel sehr teuer sind. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sich ein Kauf von US-Aktien nicht mehr lohnt. Denn US-Werte sind nicht ohne Grund höher bewertet, sie haben ja auch deutlich bessere Wachstumsaussichten als Titel aus Europa oder Japan.
Hohe Bewertungen einerseits, hohe Wachstumschancen andererseits. Welche Regionen sehen für Aktienanleger Ihrer Meinung nach attraktiver aus?
Die strukturell höheren Zinsen könnten für die hoch bewerteten US-Aktien zum Nachteil werden, die lange vom niedrigen Zinsniveau und hohen Wachstumsraten profitiert haben. Es könnte daher die Gelegenheit sein, aus US-Aktien auszusteigen und in niedriger bewertete Titel aus anderen Regionen umzuschichten.
Wie beurteilen Sie denn die wirtschaftliche Situation Deutschlands, die ja sehr ernst ist?
Ich bekomme immer wieder die Frage gestellt, ob das deutsche Wirtschaftsmodell nun am Ende ist, da die Industrie unter hohen Energiepreisen und der Nachfrageschwäche Chinas leidet. Ich entgegne dann immer, dass Deutschland mehr als nur den Industriesektor zu bieten hat. So schlägt sich der deutsche Dienstleistungssektor aktuell nicht so schlecht. Zudem ist die deutsche Wirtschaft sehr resilient, sie hat auch frühere Krisen bewältigt. So hat Deutschland den Energieschock zu Beginn des Ukraine-Kriegs entgegen allen Vorhersagen erstaunlich gut weggesteckt.
Sie hatten vorhin die wachsenden Haushaltsdefizite weltweit erwähnt. Deutschland setzt hier zur Begrenzung auf die Schuldenbremse. Diese steht aber in der Kritik. Wie ist Ihre Meinung?
Die deutsche Schuldenbremse ist sehr umstritten, da sie sehr streng ausgelegt ist. Der Nachteil ist, dass dies die Regierungen dazu verleitet, dort zu sparen, wo es erst einmal niemand merkt. Und das sind nicht etwa die Konsumausgaben, sondern die Investitionen. Und das wiederum wirkt sich erst Jahre später aus, wie man am schlechten Zustand der Infrastruktur in Deutschland nun sehen kann. Soll heißen: Deutschland muss die strikten Regeln der Schuldenbremse aufweichen, wer auch immer 2025 im Amt ist. Sonst lassen sich die wachsenden und dringend notwendigen Ausgaben für Militär, Digitalisierung sowie Energie- und Transportinfrastruktur nicht schultern.
Herr Lind, ich danke für das Gespräch.
Zur Person: Robert Lind ist Volkswirt bei Capital Group. Er hat 36 Jahre Branchenerfahrung und ist seit sieben Jahren im Unternehmen. Zuvor war er Group Chief Economist bei Anglo American und davor Leiter Macro Research bei ABN AMRO. Er hat einen Bachelor in Philosophie, Politik und Volkswirtschaft (PPE) von der Universität Oxford. Lind arbeitet in London.
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