In ein fallendes Messer greifen oder eine Kaufgelegenheit
verpassen? Diese Frage dürften sich zurzeit viele Investoren stellen, da
etliche der international bedeutenden Börsenindices deutlich gegenüber ihren
Höchstständen verloren haben. Die Komplexität in der Bewertung der Lage und der
daraus abgeleiteten Strategie kommt aus der Gleichzeitigkeit mehrerer großer
Themen – die Börse bevorzugt es sonst deutlich „ein Thema“ zu haben, wodurch
sich die Herdenstimmung an den Märkten viel leichter erkennen lässt. Welche
großen Themen sind es, die sich auch in den Zitaten der Finanzprofis in
Leitmedien wie Wall Street Journal, Financial Times und Handelsblatt
widerspiegeln? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit: die Gelpolitik der großen
Notenbanken und mögliche weitere Zinserhöhungen im Wechselspiel mit der
Inflation, die Entwicklung der Konjunktur in den großen Märkten, maßgeblich
auch des Verbrauchervertrauens, das Angebot an und die störungsfreie
Bereitstellung von Energie, die Logistik-Ketten, die Entwicklung des Krieges in
der Ukraine und die Frage nach der Entwicklung der Handelsbeziehungen mit
China, die Transformation zu nachhaltigem Wirtschaften, zum Beispiel
erneuerbaren Energien sowie die diesbezügliche Regulierung, der weitere Verlauf
der Corona-Pandemie. Es ist offensichtlich, dass eine solche Ballung von „Big
Issues“ viele Anleger überfordert.
Das Züricher Analyseinstitut Media Tenor International hat
untersucht, wie sich das Sentiment gegenüber verschiedenen Branchen in den
letzten Monaten entwickelt hat, wo noch oder wieder zuversichtliche Signale
erkennbar sind und wo die Stimmung sich verschlechtert oder im Keller bleibt.
Als Referenz dient der Vergleich mit den Sentimentwerten zum Jahresbeginn. Die
Ankündigung, dass ein Teil der Aktien des Autoherstellers Porsches Ende
September an die Börse soll, mag mancher belächeln, sie entspricht aber
grundsätzlich dem positiven Stimmungstrend zur Autobranche: Zum Einmarsch
Russlands in die Ukraine sank der Sentimentwert zur Branche in den negativen
Bereich, seit Juni hat sich das Bild erkennbar aufgehellt und im August lag der
Wert bei +36,6. Der Nachfragestau aufgrund von Lieferengpässen während Corona
und die wachsende Nachfrage nach E-Mobilität in einer Reihe von Ländern dürften
begünstigend wirken – vor allem bei niedrigen Einstiegskursen. Das Bild bei den
Banken hat sich zuletzt unterschiedlich entwickelt. Grund zur Sorge sind
kurzfristig möglicherweise steigende Kreditausfälle bei Privaten (z.B.
Immobilienfinanzierung) und Firmen (z.B. Insolvenzen). Andererseits sorgt der
Wegfall von „Strafzinsen“ und fortschreitende Digitalisierung für Entlastung
und auch Volatilität an den Märkten ist nicht per se schlecht für die
Ergebnisse. Die Aufseher beschäftigt aber auch die Frage nach den Transitionsrisiken.
In Summe ist das Sentiment zum Bankensektor im August jedenfalls noch
einstellig positiv. Dass die Märkte sich Sorgen um die Bau- und Immobilienbranche
machen ist nicht von der Hand zu weisen. Der Sentimentscore zur
Immobilienbranche lag zuletzt bei -63,6 zur Baubranche bei -42,9. Bei der
Frage, ob das eine Kaufchance oder ein Signal zum Weglaufen ist, muss wohl
jeder Anleger für seinen eigenen Horizont klären. Jedenfalls dürfte sich jetzt
auch deutlicher zeigen, wieviel der Nachfrage durch fundamentalen Bedarf
getrieben ist und wieviel in den letzten Jahren durch Niedrigzinsen und den Run
zu „Betongold“. Die heftige Energiepreisentwicklung dürfte dazu führen, dass
Bau- und Immobilienprojekte in den kommenden Monaten deutlich stärker unter
Fragen der Nachhaltigkeit und Energiesicherheit betrachtet werden als zuvor.
Chemietitel wären nach klassischer Börsenweisheit vor allem
ein Investment entlang der Konjunkturentwicklung. Im Widerspruch steht, dass
das Sentiment gegenüber dem Jahresbeginn kaum schlechter geworden ist und im
August noch knapp +25 erreichte. Offenbar macht sich die Chemie auch immer
unentbehrlicher beim Umbau zur grünen Wirtschaft, so wie beispielsweise die
Hersteller von hochreinem Silizium. Einen deutlichen Sentiment-Knick
verzeichnet der Handel. Zum Jahresbeginn lag der Sentimentwert noch bei +28,9,
im August dagegen bei -0,9. Die Stimmung zu Gesundheitstiteln war in diesem
Jahr recht volatil. Treibendes Thema war die Entwicklung der Corona-Pandemie
und die Suche nach weiteren Impfstoffen. Im August war das Sentiment mit +18,5
höher als im Januar (+6,5), aber niedriger als zu den Höhenflügen während der
zweiten und dritten Corona-Wellen und auch in einigen Monaten dieses Jahres.
Offenbar schauen die Finanzprofis inzwischen nicht mehr nur auf Corona und
vermutlich ist das auch gut so. Das Sentiment zu Öl- und Gastiteln hat seit
Jahresbeginn von +11 auf +52 zugelegt und zumindest kurzfristige oder
Dividenden-orientierte Investoren schauen auf die Chancen. Die Frage ist
allerdings, ob der scheinbare Rückschlag für Nachhaltigkeitsbestrebungen durch
den Run auf Öl und Gas nicht ein Katalysator für den Ausbau der erneuerbaren
Energieproduktionen bei den großen Firmen wie Shell, Total und BP darstellt,
weil die Finanzierung dieser Geschäftsbereiche nun aus internen Mitteln stark
vorangetrieben werden kann. Die Entwicklung des UNGSII-Fonds auf Basis des
SDG-Committments in den Finanzgeschäftsberichten spricht für das
Transformationspotenzial solcher Firmen.
Ein wesentlicher (Negativ-)Wertfaktor im Portfolio der
Anleger war die Entwicklung der Technologietitel in den letzten Monaten. Hier
ist das Stimmungsbild gegenüber dem Jahresauftakt immer noch erkennbar
schlechter (Januar: +29,1, August: -0,5). Indes hat sich in den letzten Wochen
eine gewisse Erholung abgezeichnet. Signalisiert das die Trendwende? Die
Beurteilung ist kompliziert, denn die Sentiment-Scores zu Titeln wie Alphabet,
Meta oder Apple vollführen derzeit noch Sprünge. Anleger müssen also genau
hinschauen. Positiver sieht es bei Telekom-Werten aus. Der Score zur Branche
hat sich zuletzt deutlich positiv entwickelt. In Summe zeigt sich das
Sentimentbild zu den Branchen derzeit also ähnlich komplex wie die Umstände.
Langfristig orientierte Anleger finden aber Chancen-Signale, vor allem mit
Blick auf die Transformation zu Nachhaltigkeit. Insgesamt wurden 30.715
Aussagen ausgewertet.
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